Frank Gratkowski / Ensemble Modern „Mature Hybrid Talking“
Ensemble Modern
Dietmar Wiesner – flute
Christian Hommel – oboe
Jaan Bossier – clarinet
Johannes Schwarz – bassoon
Sava Stoianov –trumpet
Till Künkler – trombone
Hermann Kretzschmar – piano
Giorgos Panagiotidis – violin
Eva Böcker – violoncello
Paul Cannon – double bass
Frank Gratkowski – conducting, flute, alto saxophone, bass clarinet
Recorded live on 31 March 2022 in Frankfurt am Main
Recording Volker Bernhard
Mixing Wolfgang Stach, Maarwegstudio 2, Cologne
Mastering Reinhard Kobialka, Topaz, Cologne
Graphic design Sebastian Jehl
Liner notes Richard Barrett
Cover photo Frank Gratkowski
Producer Frank Gratkowski
Executive producer Teresa Coll
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Liner Notes von Richard Barrett
Wenn ich notierte Kompositionen von kreativen Musikern höre, die überwiegend im Bereich der improvisierten Musik tätig sind, fasziniert es mich immer wieder, wie sich die Persönlichkeit des Improvisators in den Notentext einschreibt (oder auch nicht). In Frank Gratkowskis Komposition „Mature Hybird Talking“ steht das Kaleidoskop aus Farben, Dichtegraden und unvorhersehbaren Richtungswechseln zweifellos in völligem Einklang mit jenem Sinn für spontane musikalische Architekturen, der sich auch in seiner Arbeit an Rohrblattinstrumenten und Flöten in diversen Kontexten zeigt. Bei der Improvisation geht es Gratkowski um Improvisation von Struktur, womit er überzeugend der landläufigen Auffassung widerspricht, improvisierte Musik sei weniger strukturiert als andere Kompositionsstrategien.
Ein Großteil des musikalischen Materials in „Mature Hybird Talking“, ist rhythmisch und in den Tonhöhen vom Komponisten präzise notiert – auch Viertel- und Achteltöne für all jene Instrumente, die sie spielen können. Durch das Fehlen dynamischer Angaben ist es jedoch jedem Mitglied des Ensembles erlaubt, seinen oder ihren Klang nach eigenem Ermessen innerhalb der wechselnden Texturen auszubalancieren. Erst während des Probenprozesses mit dem Ensemble Modern wurden die für ein bis zehn Instrumente notierten Module zu einer patchworkartigen Abfolgezusammengefügt, in der auch Improvisation ihren Raum hat. Gratkowski ist dabei mal Instrumentalist und mal Dirigent, der mit Handzeichen die kollektive Imagination des Ensembles sammelt und kanalisiert.
Beim Hören von „Mature Hybird Talking“ gibt man schnell den Versuch auf herauszufinden, welche Strategie verwendet wurde, um den entsprechenden musikalischen Moment hervorzubringen. Stattdessen ist die Aufmerksamkeit (genau wie die des Komponisten) von einem Auf und Ab musikalischer Ideen und Energien gebannt, bei dem jederzeit alles passieren kann. Das Ganze aber hat dabei eine Kohärenz und Vernetzung, die Frank Gratkowskis Fähigkeit bezeugt, die Musikalität seiner Ensemblemitglieder spontan zu aktiveren und zu lenken. „Mature Hybird Talking“ ist ein authentisches Werk des 21. Jahrhunderts, das höchste musikalische Freiheit und höchste Disziplin in einer Art und Weise kombiniert, die eine wesentliche und notwendige Tendenz zeitgenössischen musikalischen Denkens repräsentiert.
Diese ausgedehnte modulare Komposition ist einerseits dem Komponisten Iannis Xenakis anlässlich seines 100. Geburtstags gewidmet, andererseits dem Schriftsteller James Joyce. Dennoch „spricht“ die Musik mehr in der Art von Joyce als in der von Xenakis. Die beinahe konstante Akkumulation komplexer Aussagen, die sowohl in sich als auch untereinander verknüpft sind, sind der Art, dass sie die gewaltigen Wortspiele aus Finnegans Wake widerzuspiegeln scheinen.
„Mature Hybird Talking“ zu hören, bedeutet, sich auf die Reise durch eine Klanglandschaft zu begeben, als navigiere man auf einem Fluss, dessen mäandernde Wendungen stets Neues und Unerwartetes offenbaren – während der Fluss selbst jener kompromisslos unidiomatischen Herangehensweise entspricht, mit der Gratkowski Vorkomponiertes und Improvisiertes verschmelzt, um im Wesentlichen zwischen musikalischen Stromschnellen und Zonen der Ruhe zu alternieren.
In diesem Fluss können vertraute Elemente erscheinen, etwa ein an Jazz erinnerndes Bass-Solo, eine erkennbare Harmonie oder Unisono-Melodien; Materialien, die sich jedoch nie in erwartbarer Weise entfalten und deshalb nicht selten befremdlich klingen, und den Hörer fast im gleichen Moment an irgendetwas erinnern. Dieses Neuartige, bislang Unerhörte war zweifellos der fesselndste Aspekt in der Musik von Iannis Xenakis, dessen Erbe bis in die heutigen Tage immer wieder neue Verzweigungen erfährt.
Richard Barrett
(Übersetzung Hubert Steins)