Fo[u]r Alto „4 compositions by frank gratkowski“

Florian Bergmann,
Frank Gratkowski,
Benjamin Weidekamp,
Christian Weidner – alto saxophones

Leo Records (LR 652)

1 TamTam 4a (15:20)
2 Molto Fluttuante (11:38)
3 Likewise (4:37)
4 Sound 1 (31:10)

Recorded on April 4th and 5th 2011 by Walter Quintus. Mixed and mastered by Walter Quintus.

All compositions by Frank Gratkowski (GEMA)

Special thanks to Reinhard, Achim, Gabriele and Hayden

Cover art by Gabriele D.R. Guenther

„Questions & Answers“ (detail)

mixed media/found objects on canvas on wood — 160 x 61 cm

Artwork photograpy by Achim Kaufmann

Frontcover design by Manon Kahle

Liner Notes: EINKLANG DES VIELFÄLTIGEN

Das Saxophonquartett „Fo[u]r Alto“ auf mikrotonalen Wegen

Seit den 1970er-Jahren kommen Saxophone immer wieder in selbständigen Ensembles zum Einsatz. Legendär ist das 1973 gegründete Trio SOS (Alan Skidmore, John Surman und Mike Osborne), eines der ersten Saxophonensembles, das ohne obligatorische Rhythmusgruppe spielte, dem bald darauf, 1976, mit dem „World Saxophone Quartet“ (in der Originalbesetzung: David Murray, Oliver Lake, Julius Hemphill und Hamiet Bluiett) die wohl bekannteste Saxophongruppe folgte. Das sollte den Startschuss geben für die Gründung zahlreicher weiterer reiner Saxophonensembles, zu deren bekanntesten das „Rova Saxophone Quartet“ und in Deutschland die „Kölner Saxophon Mafia“ zählen.

All diesen Ensembles gemeinsam ist eine Form des dialogischen Spiels, in dem drei Solisten wechselseitig die Phrasen formen, angetrieben meist von groovenden Ostinati eines Baritonsaxophons, das auch das harmonische Grundgerüst der Improvisationen liefert. Wie anders ist hingegen das 2008 gegründete Saxophonquartett „Fo[u]r Alto“ strukturiert: nicht im Sinne des Dialogprinzips, sondern mit dem Ziel, die Klänge zu verschmelzen, um aus vier Stimmen gleichsam eine einzige, vielfältig bereicherte zu machen.

Ein gravierender Unterschied zu den bisher bekannten Saxophonquartetten liegt bereits in der Besetzung. Während in den meisten Saxophonensembles die gesamte Palette der Saxophonklänge – vom Sopran-, über das Alt- und Tenorsaxophon bis zum Bariton- oder gar Basssaxophon (wie etwa bei Anthony Braxton) – genutzt wird, verwendet „Fo[u]r Alto“ schlicht vier Altsaxophone. Wer glaubt, dadurch würde der Sound des Quartetts monochrom, der irrt jedoch gewaltig. Denn der asketischen Beschränkung des Instrumentariums korrespondiert eine enorme Erweiterung des harmonischen Spektrums: durch den Einsatz mikrointervallischer Konzepte.

Seit Andreas Werckmeister Ende des 17. Jahrhunderts die gleichmäßig temperierte Stimmung entwickelte, dominiert das darauf basierende Tonsystem die westliche Musik derart, dass vielen Hörern gar nicht mehr bewusst ist, dass noch bis ins 18. Jahrhundert hinein zwölf konkurrierende Kirchentonarten verwendet wurden, die mit jeweils spezifischen Klangfarben ausgestattet sind und dementsprechend für verschiedene kompositorische Zwecke eingesetzt wurden. So erweiternd die auf der wohltemperierten Stimmung basierenden Tonskalen hinsichtlich ihrer Modulationsfähigkeit sind, so einschränkend sind sie für die Entwicklung eigentümlicher Klangcharakteristika. Bei allen Vorzügen besitzt die Unterteilung des Oktavraums in zwölf gleichmäßig temperierte Halbtonschritte natürlich auch etwas Willkürliches.

In der neuen Musik sind diese Limitationen vollends bewusst geworden. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten Komponisten wie Alois Hába oder Ivan Wyschnegradsky durch Entwicklung von Viertel- und Sechsteltonskalen neue Farben ins kompositorische Spiel zu bringen. Mit einer mathematisch berechneten, aus 43 Tönen bestehenden mikrotonalen Tonskala agierte seit den 1930er Jahren der Amerikaner Harry Partch; etwas später entwickelte sein Landsmann James Tenney speziell auf bestimmte Kompositionen zugeschnittene Skalen; mit dem gesamten Spektrum der Obertöne operieren heute die französische „Ecole spectrale“ oder der Österreicher Georg Friedrich Haas. Womit nun auch in die westliche Musik eindrang, was in der arabischen seit jeher eine Selbstverständlichkeit ist: Intervalle einzusetzen, die kleiner sind als ein Halbtonschritt, was in der orientalischen Musik mit den so genannten Maqāmāt, Melodiemodellen, die Vierteltöne enthalten, praktiziert wird.

Diese Integration von Mikrointervallen treiben auch jene Improvisationsmusiker voran, die sich hinter dem doppeldeutigen Titel „Fo[u]r Alto“ verbergen: Die vier in Berlin beheimateten Altsaxophonisten Frank Gratkowski, Christian Weidner, Benjamin Weidekamp und Florian Bergmann spielen Stücke „for alto“ – also gleichsam für e i n Altsaxophon –, und das, obwohl sie mit Vierteltönen experimentieren. Begonnen hatte das Quartett seine Entdeckungsreise, indem es völlig frei mit Mikrointervallen improvisierte. Weil er von den Ergebnissen dieser Improvisationen nicht restlos überzeugt war, beschloss Frank Gratkowski nach dem ersten Konzert des Ensembles im März 2009 in Berlin, von Improvisationen durchsetzte mikrotonale Kompositionen für das Ensemble zu schreiben. Und das Ergebnis seiner – auch auf Spektralanalysen und mathematischen Kalkulationen basierenden – Klangforschungen kann sich hören lassen.

Die hintersinnige Verschmelzung von Spaltklängen („multiphonics“) zu einem singulären, prismatisch schillernden Klangkristall gelingt dem Quartett in dem mit enormer Konzentration gespielten Schlussstück „Sound 1“ am eindrucksvollsten: 24 Spaltklänge werden in 24 unterschiedlich definierten Dauern permutierend von jedem der vier Spieler so intoniert, dass der Fluss der Atemlängen sich derart organisch entwickelt, als würde nur ein Spieler all diese Klänge erzeugen. Indem die vier Musiker sich bei der Aufführung um das Publikum herum platzieren, erhält „Sound 1“ auch eine ähnliche Plastizität wie etwa John Cages Blasorchesterstück „Fifty Eight“.

Was aber am meisten überrascht an den vier Stücken dieser CD, ist deren Vielfältigkeit. Die Obertonschwingungen der Multiphonics in „Sound 1“ bilden bloß e i n e Methode, um das intendierte Ziel zu erreichen, vier Altsaxophone zu einem Instrument verschmelzen zu lassen. Ganz anders sind hingegen die drei anderen Stücke Gratkowskis organisiert. In „Molto fluttuante“ steuern die vier Musiker mit rhythmisch immer komplexer werdenden Phrasen harmonische Haltepunkte an, bis am Ende die Synchronizität zu zerbrechen beginnt und in eine Improvisation mit Atemgeräuschen mündet. Im nahtlos daran anschließenden „Likewise“ sind die Rhythmen der vier Stimmen wiederum streng im Gleichmaß geführt, harmonisch jedoch so aufgefächert, dass die Mikrointervalle oft geradezu schmerzhaft hervorstechen. Als „uni-rhythmischen Kanon“ bezeichnet Gratkowski selbst diese Verfahrensweise, die erst am Ende des Stücks in einer gleichsam antiphonal angelegten, aus punktuell angeblasenen Tönen bestehenden Passage aufgebrochen wird.

Als eine Art Summe all dieser Techniken ist Gratkowskis erste Komposition zu verstehen, „Tam Tam 4a“, die genau genommen aus sieben, mittels strukturierter Improvisationen miteinander verbundenen kurzen Stücken besteht. Besonders signifikant ist eine dieser Improvisationen mit kurz artikulierten Tönen, die den Eindruck erweckt, als ließe jemand ein Tonband bei angelegtem Tonkopf rückwärts abspielen, und das Stück „Lines-Gong M“, das durch die raffinierte Verzahnung von Triolen, Quintolen, Sextolen und Septolen auseinanderzubersten scheint, obwohl das Stück streng organisiert ist. Da verschmilzt die Magie schwerelos scheinender asiatischer Musik aufs Schönste mit den rationalen Kompositionstechniken des Westens, ohne dass deren Rigidität dem Hörer bewusst würde. Um ihn gerade dadurch zu verführen, in ebenso fremde wie faszinierende Klangwelten einzutauchen.

Reinhard Kager